Hintergrund

Architektur- und Wirtschaftsgeschichte eines Stadtteils in Winterthur

In der Ebene zwischen der Eulach und dem Strassendorf Töss dehnten sich beidseits der Staatsstrasse Felder aus. Hier durfte unter dem Ancien Régime bis 1798 nur Landwirtschaft betrieben werden. Ausnahmsweise erhielten Stadtherren Bewilligungen für den Bau von kleinen Landgütern wie dem Brühlgut und dem Schöntal beim späteren Gaswerk. Die Staatsstrasse nach Zürich war früh schon eine der drei wichtigsten Strassen des Kantons. Hierhin, an die Zürcherstrasse im Tössfeld, verlegten die Gebrüder Sulzer 1834 ihren Giessereibetrieb aus dem Altstadtbereich. Als 1856 der Bahnbau von Zürich her Winterthur erreichte, erhielt die Gegend ein Transportmittel, das die Kapazität des Pferdeverkehrs bei weitem übertraf. Am südlichen Rand des Sulzerareals baute Charles Brown ab 1871 seine Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik SLM auf. Auch die Firma Sulzer hatte sich inzwischen vom Giessereibetrieb zur Maschinenfabrik entwickelt. Für die Erweiterung des Fabrikareals bestand vorerst die Möglichkeit, südwestlich der Verbindungslinie zwischen der Zürcherstrasse beim Brühleck und der Brücke über den Rangierbahnhof eine neue Bebauung zu planen: Ab 1891 entstand zuerst die Grossgiesserei mit den Hallen 180, 189 und 191 und später die Radiatorengiesserei in den Gebäuden 50 und 51.



Das Sulzer-Areal inmitten der Stadt mit Gründerareal, Verwaltungsgelände und Lagerplatz mit Rangierbahnhof im Jahr 1960. Glasplattennegativ, Sammlung Hans-Peter Bärtschi, 1960

Sulzers Aufstieg zum Weltkonzern Die Industriellenfamilie Sulzer besass nun neben peripher gelegenen Grundstücken für Arbeiterwohnungen und Villen drei zusammenhängende Liegenschaftsgebiete: das Gründerareal zwischen Zürcherstrasse und Rangierbahnhof, den Baubereich südlich des heutigen Katharina-Sulzer-Platzes und nördlich der Zürcherstrasse die Wohlfahrtseinrichtungen mit Kantine, Bibliothek und Turnhalle. Dorthin, von einer Seite der Zürcherstrasse auf die andere, wurde auch die 1834 erbaute erste Sulzer-Villa Stein für Stein versetzt – und 1982 für den Bau des Shoppingcenters Neuwiesen abgebrochen. In jenen Jahren verabschiedeten sich die letzten Sulzer-Nachfahren aus der Konzernleitung. 100 Jahre zuvor hatten die Nachfahren der Gründergebrüder Sulzer die bedeutendste Maschinenfabrik in der Schweiz aufgebaut. Die Erfolgsgeschichte setzte sich nach 1945 fort, als die Industrie der Nachbarländer in Schutt und Asche lag. Zur Dämpfung des Arbeitskräftemangels holten die Gebrüder Sulzer Italiener, der Volksmund nannte den Konzern nun «Fratelli». Es war eine Ehre, bei den Fratelli arbeiten zu dürfen, die Stelle war quasi vererbbar. Es gab an der Jägerstrasse einen alten Mann, der war 50 Jahre lang Giesser bei den Fratelli gewesen – und auch sein Vater, sein Grossvater, sein Urgrossvater schon. Die Patrons kannte man persönlich – natürlich auf Distanz. Fast jeder Sulzer hat mal in der Fabrik ein Praktikum gemacht, bevor er in die Chefetage aufstieg. Neben Escher Wyss war Sulzer der grosse Schiffbauer für die europäische Fluss- und Seeschifffahrt. Als der Bau von Dampfmaschinen ein nicht mehr so gutes Geschäft war, absolvierte Rudolf Diesel ein Praktikum bei Sulzer. Sulzer baute 37'000 grosse Dieselmotoren. Auch bei Heizungssystemen, im Kesselbau, mit Tunnelbohrmaschinen und Webmaschinen war Sulzer führend auf dem Weltmarkt. So wuchs Winterthur nicht nur zur grössten Maschinenindustriestadt der Schweiz, sondern auch zur grünsten: Die Sulzer-Patrons nahmen Einfluss auf den Städtebau und betrieben selbst Wohlfahrtshäuser und Werkschulen.

Ein neues Sulzerareal Mit der Erweiterung von 1891 stiess die Expansion der Maschinenfabrik Sulzer an die Grenzen der Zürcherstrasse, an das Bahnareal und an das Grundstückseigentum der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik. Die letzte Expansionsmöglichkeit mit Zusammenhang zum Gründerareal bestand im Erwerb des langen Grundstückbereichs zwischen dem Rangierbahnhof und der Tössfeldstrasse, die heute im nördlichen Abschnitt «Zur Kesselschmiede» genannt wird. Vorerst lagerte die Firma hier Material im Freien. Und sie liess als erste Hochbauten ab 1895 die Modellmagazine 165 bis 167 erstellen. Städtebaulich plante das firmeneigene Baubüro eine geschlossene Zeile entlang der Tössfeldstrasse, die schliesslich noch bis 1944 zur eindrücklichen Länge von 200 Metern erweitert wurde. Die ersten Bauten auf dem Lagerplatzareal waren noch traditionell konzipiert. Ein hölzernes Skelett bildet die innere Tragkonstruktion, auch die Sekundärkonstruktion mit Bodenbalken und Bretterböden war aus Holz. Diese Bauweise zeigt sich gegen aussen mit Holzfachwerkfassaden, die mit Backsteinen ausgefacht sind. Auch der ein Jahr nach dem ersten Modellmagazin erstellte Bau 161 weist diese Konstruktionsmerkmale auf, ferner der offene, nicht ausgefachte Schuppen 192.

Das anfänglich als Lagerplatz genutzte Gelände hat eine unregelmässige Grundfläche: Im Bereich Wylandbrücke–Kesselschmiede / Tössfeldstrasse und im Abschluss der Halle 180 ist es orthogonal auf das Quartierstrassenraster ausgerichtet. Dieser Ausrichtung schliesst sich als einziges rückwärtiges Bauwerk die Modellschreinerei Halle 118 an. Leicht abgewinkelt dazu liegt das Bahnareal, auf das hin die Hallenfronten entlang der Gleise und die Halle 194 ausgerichtet sind. Als letzter Bau im traditionellen Stil entstand 1906 die Schiffbauhalle 181, von der nach der Neugestaltung und Erweiterung der Tragkonstruktion noch eine Raumschicht und die mit Efeu bewachsene Sichtbacksteinfassade gegen den Hof erhalten sind.

«Die Patrons kannte man persönlich – natürlich auf Distanz. Fast jeder Sulzer hat mal in der Fabrik ein Praktikum gemacht, bevor er in die Chefetage aufstieg.»


Konzeptvariante A aus der Generalplanungsstudie von 1989: Totalabriss der historischen Bauten mit einer Milliarde Franken Gewinnerwartung für die Sulzer-Geschäftsleitung.

Archiv Implenia Schweiz AG, Plan: Burckhardt Partner Basel

Spuren der Werkbahn mit Normal- und Schmalspurgleisen auf dem Lagerplatz. Foto: Vanessa Püntener, 2012

Krananlagen und 20 Kilometer Werkgleise Neben den beschriebenen äusseren Randbedingungen entwickelte sich das Lagerplatzareal entlang einer internen Infrastruktur. Wie in jedem älteren Schwerindustrieareal entstanden auch hier systematisch organisiert mechanische Hebevorrichtungen an Kranbahnen und mit Aufzügen. Bei den modernen Bauten im Areal bildeten die Kranbahnen ab 1910 eine Einheit mit den tragenden Strukturen der Gebäudehüllen. Zwei grossflächige Kraneinrichtungen wurden als Aussenanlagen konzipiert. Die «Hofkranbahn» diente dem Materialumschlag der 1924 erbauten Kesselschmiede. Die Einrichtung mit einer Länge von 124 Metern und einer Stützbreite von 20 Metern erhielt zum Korrosionsschutz für gelagerte Stahlteile eine Überdachung. Eine noch grossflächigere, ganz offene Kranbahn bestand südlich des Kesselhauses. Sie wurde 1942 von Locher & Cie für die Beschickung des kriegsbedingt erstellten firmeneigenen Gaswerks erstellt und nach 2000 abgebrochen.

Schliesslich bildet die Gleiserschliessung ein konstituierendes Element des Lagerplatzareals. Einerseits hatte sich die Maschinenfabrik Sulzer, wie auch die SLM, auf die Erschliessung durch den Rangierbahnhof ausgerichtet und für ihr Schienennetz die Normalspur des schweizerischen Eisenbahnnetzes übernommen. Für die Feinerschliessung auch der oberen Stockwerke der Fabriken entwickelten die Sulzer-Ingenieure ein Schmalspurnetz von der halben Normalspurweite, also 1435 Millimeter geteilt durch zwei. So konnte die Kleinbahn eine Schiene der Normalspurbahn mitbenutzen. Die Wagen wurden meist geschoben, auf Drehscheiben im rechten Winkel abgedreht und je nachdem in Aufzüge oder einfach geradeaus in die Hallen geschoben. Dieses Werkbahnnetz besass schliesslich in allen Arealen des Tössfeldes die beachtliche Länge von
20 Kilometern. Nicht zufällig entstand als zweiter Bau auf dem Lagerplatzareal 1896 eine Einstellhalle entlang des Gleisbogens, der das Gelände vom Gründerareal her erschliesst. Zwei Gleise führten da hinein, 1906 wird hier eine Lokremise für werkeigene Dampfloks erwähnt – solche fuhren sowohl auf der Normal- wie auch auf der Schmalspur. Neben Magazinräumen sind in den späteren Plänen Nutzungen für Werkstätten, technische Büros, für ein «aerodynamisches Labor» und im Untergeschoss für eine «elektrische Centrale» eingetragen. Zur eigenen Versorgung mit Strom kamen Netze für das Wasser, die Telegrafie, den Betriebsdampf und die Fernwärme.

«Winterthur wuchs nicht nur zur grössten Maschinenindustriestadt der Schweiz, sondern auch zur grünsten: Die Sulzer-Patrons nahmen auch Einfluss auf den Städtebau.»



Schiffbau auf dem Lager- platzareal: Montage des Feuer- lösch- und Bergungsbootes «St. Florian», 1940 in Halle 181. Sammlung Hans-Peter Bärtschi, 1960
Sulzers Aufstieg zum Weltkonzern Die Industriellenfamilie Sulzer besass nun neben peripher gelegenen Grundstücken für Arbeiterwohnungen und Villen drei zusammenhängende Liegenschaftsgebiete: das Gründerareal zwischen Zürcherstrasse und Rangierbahnhof, den Baubereich südlich des heutigen Katharina-Sulzer-Platzes und nördlich der Zürcherstrasse die Wohlfahrtseinrichtungen mit Kantine, Bibliothek und Turnhalle. Dorthin, von einer Seite der Zürcherstrasse auf die andere, wurde auch die 1834 erbaute erste Sulzer-Villa Stein für Stein versetzt – und 1982 für den Bau des Shoppingcenters Neuwiesen abgebrochen. In jenen Jahren verabschiedeten sich die letzten Sulzer-Nachfahren aus der Konzernleitung. 100 Jahre zuvor hatten die Nachfahren der Gründergebrüder Sulzer die bedeutendste Maschinenfabrik in der Schweiz aufgebaut. Die Erfolgsgeschichte setzte sich nach 1945 fort, als die Industrie der Nachbarländer in Schutt und Asche lag. Zur Dämpfung des Arbeitskräftemangels holten die Gebrüder Sulzer Italiener, der Volksmund nannte den Konzern nun «Fratelli». Es war eine Ehre, bei den Fratelli arbeiten zu dürfen, die Stelle war quasi vererbbar. Es gab an der Jägerstrasse einen alten Mann, der war 50 Jahre lang Giesser bei den Fratelli gewesen – und auch sein Vater, sein Grossvater, sein Urgrossvater schon. Die Patrons kannte man persönlich – natürlich auf Distanz. Fast jeder Sulzer hat mal in der Fabrik ein Praktikum gemacht, bevor er in die Chefetage aufstieg. Neben Escher Wyss war Sulzer der grosse Schiffbauer für die europäische Fluss- und Seeschifffahrt. Als der Bau von Dampfmaschinen ein nicht mehr so gutes Geschäft war, absolvierte Rudolf Diesel ein Praktikum bei Sulzer. Sulzer baute 37'000 grosse Dieselmotoren. Auch bei Heizungssystemen, im Kesselbau, mit Tunnelbohrmaschinen und Webmaschinen war Sulzer führend auf dem Weltmarkt. So wuchs Winterthur nicht nur zur grössten Maschinenindustriestadt der Schweiz, sondern auch zur grünsten: Die Sulzer-Patrons nahmen Einfluss auf den Städtebau und betrieben selbst Wohlfahrtshäuser und Werkschulen.